Alle Blumen welken, aber nur die eine nicht

Viele Erwachsene bauen sich plötzlich Plastikblumen aus Lego-Steinen zusammen. Was hat das zu bedeuten?

Beim Lego-Blumenmodell »Wildblumenstrauß« bastelt man aus 939 Teilen Lavendel, Mohnblumen, Gänseblümchen.

Foto: Jan Philip Welchering

Beim Kieferorthopäden meines Sohnes steht wieder so ein Dings – ein Plastik­blumenstrauß, aus Lego-Bausteinen zusammengesetzt, Modell »Wildblumenstrauß«, wie die Rezeptionistin verrät. Ich habe diese Lego-Blumen schon oft gesehen, bei Freunden auf dem Sideboard, bei der Kollegin im Büro, und ich habe auch selbst ein Bausteinset geschenkt bekommen, Modell »Lotusblumen«. Blumen, das sind die Boten des Zeitgeistes, denke ich, die sagen doch was, in Geschichte, Literatur, Kunst. Haben sich nicht unzählige Dichter und Denker an Blumen abgearbeitet, Pierre Bourdieu, Sigmund Freud, Johann Wolfgang von Goethe, der schrieb: »Blumen sind die schönen Worte und Hieroglyphen der Natur, mit denen sie uns andeutet, wie lieb sie uns hat.« Und die Lego-Blume? Ist sie die Mode­blume unserer Epoche? Und was flüstert sie?

Die praktischen Vorzüge der Lego-Blume sind offensichtlich: Sie welkt nie, ist also auf den ersten Blick wie gemacht für unsere Ansprüche an Nachhaltigkeit. Man muss sich nicht um sie kümmern, perfekt für unsere mit »mental load« vollgepackten Lebensstile. Sie ist nicht mit Pestiziden behandelt und löst keine Allergien aus. Sie wurde nicht in einem Ausbeutungssystem unter Einsatz von giftigen Insektenvernichtungsmitteln angebaut oder in europäischen Gewächshäusern mit Unmengen von Wasser hochgezüchtet. Sie fängt niemals an zu müffeln. Sie erzeugt keinerlei Folgekosten. In Zeiten von Inflation und gestiegenen Lebenshaltungskosten sparen Menschen am Verzichtbaren. Auch die Blumensträuße, die man kauft, werden kleiner, wofür es den Begriff »Shrinkflation« gibt. Dagegen verspricht die Lego-Blume noch Spaß und Spiel beim Zusammenbauen und ein wenig Nostal­gie, weil wir ja quasi alle mit Lego aufge­wachsen sind.

Bei Lego ist man natürlich begeistert von den Verkaufszahlen der Blumen, sie seien Bestseller in der hoch geschätzten Zielgruppe der Erwachsenen, und es wurde ihnen eine eigene Kollektion gewidmet, die »Botanicals«. Erfunden hat sie eine Auszubil­dende in Billund, Dänemark, Sitz von Lego. Diese Mitarbeiterin ist im Programm für Menschen mit besonderen Anforderungen tätig – eine Autistin mit einer Vorliebe für das Zusammenstecken von Blumen. 2021 erstmals auf den Markt gebracht, gibt es jetzt schon mehr als 20 Botanicals: Sonnenblumen, rote Rosen, ein Weihnachtskranz, ein Bonsai.

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Trotzdem denke ich, wenn ich Lego-Blumen sehe, nicht gerade reflexhaft an Shakespeare und sein Veilchen im Sommernachtstraum oder das Gänseblümchen im Hamlet. Auch nicht an die hohen Häuser des Mittelalters mit ihren Blumensymbolen im Wappen, an die Bourbonen mit ihrer Lilie. Nicht an die Menschen, die im Ersten Weltkrieg Kornblumen als Zeichen für die Sehnsucht nach Frieden pflanzten, und nicht an jene, die heute eine rote Mohnblume am Revers tragen, wenn sie Kriegsopfern ge­denken. Blumen sind eine eigene Sprache, immer schon – eine Sprache der Liebe, der Milde, auch der Distinktion.

Was sagt nun die Lego-Blume »Lotus« bei mir zu Hause aus? Sie zusammenzu­bauen, kostete mich eine Stunde, was manche Menschen als meditative Entschleunigung empfinden. Ich fand es nervig. Ich fürchte, damit sagt mir die Blume schon mal, dass ich ungeduldig bin und mich normalerweise zu wenig mit dem Teil der Welt beschäftige, den ich anfassen kann, und zu viel mit Rumscrollen auf dem Handy. Aber da muss ich zu dieser Blume auch sagen: Kümmere dich mal um deine eigenen Probleme.

Denn sie hat ja durchaus Nachteile. Wie alle anderen Bausets zerfallen die Blumen bei einem Sturz in ihre Einzelteile, und so wie ich das Leben kenne, verschwinden diese Teile dann auf magische Art. Auch meine Lego-Blume könnte eines Tages Plastikmüll werden und nicht wie echte Blumen in den Kreislauf des Lebens zurückkehren, sondern im schlimmsten Fall aus der Nase einer erstickten Meeresschildkröte hängen. Bis 2032 will Lego seine Steine aus erneuer­baren oder wiederverwerteten Materialien her­stellen. Bislang können nur flexible Teile aus zuckerrohrbasiertem Bio-Polyethylen pro­duziert werden. Lego fertigt täglich 200 Millionen Steine, so robust, dass sie kaum abbaubar sind: Viele Kunststoffe überdauern Jahrhunderte, sogar Jahrtausende. Das beste Recycling ist bisher die Weiter­gabe oder die Spende von Lego-Sets.

Vielleicht wird die Lego-Blume wieder aus der Mode kommen, herauskatapultiert aus der Zeitgeschichte. Später werden wir sie dann als Ausdruck dafür verstehen, was vielen Menschen jetzt besonders wichtig ist: die unbedingte Hinwendung zur Technik. Dieser stetige Kampf gegen die Vergänglichkeit, ob bei unserer Haut oder bei einem Blumenstrauß. Und dass wir alles am liebsten in seine erklärbaren Einzelteile zer­legen, in Nullen und Einsen, in Moleküle, Atome, Quanten, in Nukleinsäure-Ketten und RNS-Botenstoffe. In diesem Fall eben in Lego-Bausteine.