Die zeitverzögerte Zärtlichkeit einer Postkarte

Immer weniger Menschen schreiben heute noch Karten, dabei macht so ein kleiner Gruß die Welt für jemanden einen Moment lang friedlich
und schön.

Illustration: Lukas Eggert

Das Glück misst 105 mal 148 Millimeter, das merkte ich mal wieder an einem Freitag im Mai. Ich lief mit Lebensmitteleinkäufen beladen nach Hause und ärgerte mich. Worüber, weiß ich nicht mehr, es mag der Riemen meiner schweren Tasche gewesen sein, der mir in die Schulter schnitt, die kurzfristige Absage eines Interviews, die Weltlage oder alles zusammen – egal, ich war grummelig. Ich öffnete die Tür und stieg die vier Stufen im Hauseingang hinauf. Die Tasche schlug mir dabei in die Hüfte, und ich war kurz davor, ein Geräusch von mir zu geben, das mir nahestehende Menschen kennen und als »Stöhngrunzröhren« bezeichnen, als ich den Briefkasten öffnete und darin eine Postkarte von meiner Freundin C. fand. Liebe Nele, ich glaube, in Stockholm leben Elfen. Deshalb tut es der Seele gut. Bis bald! Ich schickte ihr per Textnachricht ein Herz und schrieb: »Ich habe gerade den Briefkasten angelächelt.« Die Welt war plötzlich doch ein ganz okayer Ort.

Ich liebe Postkarten. Ich liebe ihr kompaktes Format, ihre pappige Haptik, ihren stillen Stil. Eine Postkarte vibriert nicht und gibt keinen Pling-Ton von sich. Ein Brief ist zu förmlich, ein Anruf zu direkt, eine SMS zu flach. Das kleine Textfeld neben den Adresszeilen einer Postkarte ist der perfekte Platz für eine Anekdote, ein Liebesgedicht oder eine Zeichnung – nicht mehr und nicht weniger, kein Ausschweifen möglich. Die Postkarte ist ein Liebesbeweis der Art, wie ich sie mag: diskret-poetisch. Man muss sich nicht direkt zu ihr verhalten, ihr Reiz liegt im Mittelbaren, in der zeitverzögerten Zärtlichkeit der Handschrift des anderen. Jemand hat sie für mich ausgesucht, gekauft, mit der Hand beschrieben, sie mit einer Marke versehen und ist zum nächsten Briefkasten gelaufen, dabei hätte er oder sie dieselbe Botschaft auch im Liegen ins Handy tippen können. All der Aufwand! Ist das nicht himmlisch ineffizient? Die Postkarte ist eine der letzten Inseln der Irrationalität in unserer informationsgestressten Gesellschaft.

Mit der Postkarte rieselt eine Prise aus dem Urlaub des einen in den Alltag des anderen

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Wie so vieles, was schön ist, fällt auch die Postkarte der Digitalisierung zum Opfer. Im Jahr 2023 hat die Deutsche Post 95 Millionen Exemplare befördert, zwei Jahre zuvor waren es noch 20 Millionen mehr gewesen. Die Ergebnisse einer Umfrage bezeugen ein Phänomen, das ich das Postkarten-Paradoxon nenne: 82 Prozent der Befragten wünschen sich, wieder mehr Postkarten zugeschickt zu bekommen, aber nur 40 Prozent verschicken sie selbst. Zücken Sie den Stift und schließen Sie die Lücke, Stück für Stück!

Einen beachtlichen Teil meines Lebens habe ich in Museumsshops und Souvenirbuden verbracht, versunken in das Drehen des Kartenkarussells. Beim Motiv gilt: Kunst oder Kitsch. Je nach Anlass und Adressat wähle ich also beispielsweise Suzanne Valadons Chambre bleu oder den Eiffelturm, glitzernd, mit pinkfarbenen Herzen und der Aufschrift Paris, je t’aime – beide Optionen sind gleichermaßen großartig. Beim Schreiben befolgen viele Verfasser die Standardgleichung: Postkarte = (Unterkunft + Wetter + Essen) x Superlativ. Wir wohnen im hübschesten Häuschen. Das Wetter könnte nicht besser sein. Das Essen schmeckt fantastisch. Sonnige Grüße aus [hier Ort einfügen]! Mit der Postkarte rieselt eine Prise aus dem Urlaub des einen in den Alltag des anderen.

Aber auch abseits der Ferien ist die Postkarte mein liebstes Kommunikationsmittel. Meistens kaufe ich gleich mehrere auf Vorrat und horte zu Hause ein kleines Magazin der Möglichkeiten. Nach dem Studium zog es meine Freunde und mich in die entferntesten Ecken Europas, ich führe zig Fernfreundschaften. H. schrieb ich kürzlich ein Prachtexemplar der Kategorie Kitsch, es zeigte zwei Katzenbabys vor lilafarbenem, sternenbestücktem Hintergrund und der Aufschrift: Freunde sind wie Sterne. Man sieht sie zwar nicht immer, aber sie sind immer da!

Der englische Künstler und Fotograf Martin Parr hat mehr als zwanzig Jahre lang Postkarten gesammelt und sie im Bildband Boring Postcards veröffentlicht. Die Karten zeigen Autobahnen, Umgehungsstraßen, Verkehrsknotenpunkte, Busbahnhöfe, Fußgängerzonen, Wohnsiedlungen, Flughäfen und Einkaufszentren in Großbritannien. In der Beschreibung des Bandes heißt es, »um als ›langweilig‹ zu gelten, mussten die Fotos entweder langweilig sein oder durften nichts Interessantes zeigen«. Doch auch die fadeste Abbildung kann dank einer fantasievollen Nachricht strahlen.

Apropos strahlen, in einem Roman aus der Stadtbücherei fand ich vor einigen Wochen eine Karte, datiert auf den 2. Dezember 2024. Rätsel Nr. 2 stand da neben einem golden leuch­tenden Sternenaufkleber. Liebe Eva, mit dem ersten Advent kam der erste Stern. Was dieser Stern soll, weiß ich natürlich schon. Du? In großer Vorfreude, Dich bald wieder zu sehen. Ein Postkarten-Adventskalender! Ich nutzte die Karte als Lesezeichen und fühlte mich verbunden mit den vorherigen Leserinnen – das Buch war sicher seit Dezember einige Male entliehen worden, und doch hatte niemand die Karte entfernt, wohl aus Respekt vor der Herzenswärme, von der sie zeugt.

Die Karte von C. aus Stockholms Moderna Museet hängt mittlerweile an meiner Wand. Sie zeigt nicht Kirchners Zwei Tänzerinnen, sondern die beschriebene Seite, so kann ich sie jeden Tag lesen. Denn Postkarten tun, wie Elfen, der Seele gut.