Russland hat in Deutschland ein schlechtes Image, seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine natürlich erst recht. Vor allem im Westen. Im Osten Deutschlands trifft man schon immer mal wieder auf Menschen, die Russland anders kennen und anders darüber sprechen. Neulich saß ich auf einer Urlaubsinsel mit einer Sächsin zusammen, die ein eigenes Bild von Russland hatte. Sie war dort gewesen im Schüleraustausch, sie hatte dort Weiterbildungen gemacht und Urlaube verbracht. Was für mich Frankreich war, das war für sie Russland gewesen. Sie fühlte sich dem Land im Osten so nachhaltig nah wie ich mich dem Nachbarland im Westen. Meine Gründe dafür sind nicht besser als ihre. Mag ich die Franzosen doch im Grunde auch nur so innig, weil ich dort mal in einem Stockbett unter einer Französin geschlafen und weil ich zugehört habe, wie sie auf Französisch ausgeschimpft wurde, weil wir am Vorabend zu spät nach Hause gekommen waren, da ich noch unbedingt einen bestimmten Franzosen hatte küssen wollen.
Alle positiven Erfahrungen – selbst das sauteure Studium in Paris – liegen Jahre zurück. Trotzdem unternehme ich bis heute größere Schritte im Kopf, um die Franzosen zu verstehen, als ich es für die Russen machen würde. Und das ist doch Empathie. Wen will man verstehen? Meine Gesprächspartnerin empfand so für Russland, sie kannte Russen, sie hatte sich in welche verliebt, sie hatte sie mutig und witzig und klug erlebt. Sie erzählte mir davon. Und ich verstand sofort, warum es ihr schwerer fiel, dem Russen immer nur das Schlechteste zu unterstellen.
Wir redeten über unsere im Osten und im Westen gescheiterten Beziehungen, über Lebensträume, die sich als unrealistisch herausgestellt hatten, und darüber, welcher Kompromiss aus Idee und Realität sich dann doch lohnt. Da sich in unserem Club auf der Urlaubsinsel ohnehin alle duzen, blieb uns nur der gemeinsame Wodka, um das intime Gespräch angemessen abzubinden. Aber während es All-you-can-drink-Rosé gab, Bier zum Selberzapfen und Grappa zum Bezahlen an der Bar, konnten wir keinen Wodka auftreiben. Russland hat einfach einen schlechten Ruf, sagten wir lachend, und jede ging zurück zu ihrer Sonnenliege.
Eine Woche später entdeckte ich im Supermarkt etwas Interessantes. Eine Hybridform wider den Zeitgeist: »Wodka Gorbatschow Sex on the Beach«. Ich glaube, ich habe laut aufgelacht. Das war das Letzte, was ich in meinem Kopf zusammenbrachte: Wodka, Russland, seine Brutalität und dann vor mir diese Dose, mit Sonnenschirm-Aufdruck und Palme, orangefarbener Schwungschrift, ein leichtfüßiges Partygetränk. Ich kaufte eine Dose. Seitdem steht sie bei mir im Kühlschrank und kommentiert ironisch all die ostentative Stärke der Welt. Man konnte dem zuletzt ja kaum noch entkommen. Jeder musste Stärke unter Beweis stellen – auch wenn dabei so etwas Absurdes wie eine genau abgezählte Menge Bomben auf ein vorgewarntes, unbeteiligtes Land dabei herauskam.
Mir erscheint das Stärkezeigen so alltagsfremd. Mir fiele kaum eine Situation in meinem Leben ein, in dem Stärkezeigen eine adäquate Reaktion wäre. Es wäre schlicht unpassend, unnachgiebig, rau und drohend zu sein. Es brächte mich keinen Meter weiter – weder bei einem trotzigen Kind noch bei einem verletzten Mann, auch nicht gegenüber einem genervten Chef. Stärke zu zeigen ist eine Konfrontation, ein Wettrüsten der Kraft, eine Demonstranz – das heilige Herzeigen von Streitlust. Vielleicht ist es das, was mich am inflationär verwendeten Terminus »Stärke zeigen« so irritiert. Stark ist man nicht, wenn man denkerisch nur auf seinem Standpunkt bleibt. Man zeigt so nicht, dass man stark ist, nur dass man beschränkt ist. Gefragt wäre eine Stärke des Einfühlens. Vielleicht nicht in die russische Staatsführung, aber in die Deutschen, die andere Erfahrungen mit Russen gemacht haben. Empathie – eben dieses Sich-verstehen-Wollen.