Wann immer ich gefragt werde, welches mein Lieblingstier sei, welches Tier ich selbst gern wäre oder mit welchem Tier ich mich mal unterhalten wollen würde, dann antworte ich zuverlässig: Möwe. Ich bewundere und verehre Möwen, sie sind für mich heilige Tiere. Ich liebe es, ihnen bei ihrem Tagwerk zuzusehen. Wie sie mit Krähen kämpfen, meistens geht es um Müll. Wie sie durch meine Straße und an meinem Balkon vorbeisegeln, bereit, mir im Zweifel alles wegzureißen, was ich an Essbarem in der Hand halte. Wie sie allein, aber auch in Gruppen unterwegs sind, ohne irgendwelchen Regeln oder Formationen zu folgen, sie sind einfach komplett anders als zum Beispiel diese streberhaften Zugvögel. Elegante, anarchistische Räuber, große Kraft, große Schönheit, große Sehnsucht, keine Gesetze. Djangos der Lüfte. Sie füttern ihre Jungen gern mal mit hochgewürgtem Fisch, und sie lassen das, was sie loswerden wollen, meistens im Flug fallen, wie es ihnen gerade passt.
Ich bin schon oft davon getroffen worden, aber es ist kein demütigendes Gefühl wie jenes, das mich ereilt, wenn mich Taubenexkremente erwischen, nein, es ist ein erhabenes Gefühl – denn Möwenschiss ist wie der Himmel über der Nordsee, gewaltig und weiß mit einem Hauch von Graublau, vermutlich kommt das von der ausgewogenen Ernährung aus Müll, geklautem Zeug und rohem Fisch. Den Rücken meiner dunkelblauen Bomberjacke hat es mal so richtig erwischt, flatsch, von unterhalb des Kragens bis zum Bund oberhalb der Hüfte, auf meinem Zug durch die Kneipen der Stadt habe ich die Jacke den ganzen Abend angelassen und sie getragen wie einen Orden. »Seht her«, verkündete der Fleck, »eine der Regenpfeiferartigen hat mich markiert! Sie war sicherlich furchtlos, lautstark und sehr gesellig, ich fühle mich ihr tief verbunden! Vielleicht war es eine Silbermöwe, eine Heringsmöwe, eine Steppenmöwe, eine Lachmöwe! Im besten Fall sogar eine Sturmmöwe!«
Leider glaube ich nicht an ein Leben nach dem Tod oder an eine Art von Wiedergeburt, aber wenn es doch möglich sein sollte, möchte ich hiermit bei welcher Instanz auch immer beantragen, dass ich als Möwe über der Biskaya wiedergeboren werde. In einem frischen, weißen Federkleid im Wind segeln, Salzwasser trinken, Fisch essen und alle anderen permanent vollkrakeelen – das wär’s. So gibt es an einem Sommerabend für mich kein erfrischenderes Getränk als einen »Möwenschiss«, weil der Drink sich erstens ausgesprochen kraftausdrückig auf mein Krafttier bezieht und zweitens den menschlichen Organismus mit allem versorgt, was er nach einem langen, heißen Tag braucht. In einer Kneipe auf St. Pauli wurde es in folgender Variante kredenzt: Eiskalter Wodka, von erfahrenen Konsumenten stets zusammen mit einem großen Glas Leitungswasser genossen, kühlt das System runter und bringt einen auch insgesamt ein bisschen runter, der Tag war ja im Zweifel nicht nur lang, sondern auch anstrengend. Das kleine Stück Pumpernickel, das auf dem Wodkaglas platziert wird, macht in all seiner dunklen, malzigen Schwere nach zwei Bissen satt, was sich lebensrettend anfühlen kann, wenn man seit Stunden nichts gegessen hat, weil es einfach zu warm war. Und der Klecks Blauschimmelkäse auf dem Pumpernickel ist voller Salz und Fett und kümmert sich also um die Seele.
Man muss gerade in Hamburg natürlich aufpassen, wenn man den kleinen, auffälligen Drink draußen zu sich nimmt, denn sollte eine Möwe vorbeigesegelt kommen, wird sie sich vom Himmel stürzen, und schon sind der Pumpernickel und der Käse weg. Dann empfehle ich, den Wodka zu genießen und zu warten, bis die Möwenbeute in transformierter Form zur Erde runterfällt, denn darauf ist Verlass, auch in diesen unsicheren Zeiten.