Glastonbury fängt zwar heute erst an, die ersten Besucher sind aber jetzt schon pleite, und das nicht nur wegen der 375 Pfund Eintritt. The Times zitierte eine junge Engländerin, die im Vorfeld ganze 1500 Pfund auf den Kopf haute: für »Booze« zum Vorglühen, diverse Beauty-Behandlungen und verschiedene, »akribisch geplante Outfits«. Woodstock mag noch ein mehr oder weniger spontanes Happening gewesen sein. Heute sind Festivals wie Coachella, Primavera Sound, Fusion oder »Glasto« so etwas wie der persönliche G7-Gipfel unter den Ausgeh-Aktivitäten. Olivia Rodrigo, 1975 und Neil Young müssen auf der Bühne perfekt performen, aber auch der eigene Auftritt soll bitte der beste ever sein.
Da helfen die Modeläden und Marken natürlich gerne mit. Seit Jahren bringen sie pünktlich zur Festivalsaison spezielle Kollektionen heraus oder schrauben einen Newsletter mit Stylingideen zusammen. Keiner soll sich mehr den Kopf zerbrechen oder gar eigenhändig die Jeans zerfleddern müssen wie noch in den Neunzigern und Nullerjahren. Gibt es jetzt alles Ready-Made und vorsortiert von der Stange, dieses Jahr sogar mit großangelegten Kampagnen. Zara engagierte den alten Festivalhasen Kate Moss zusammen mit Bobby Gillespie. Das ist der Frontmann von Primal Scream. Und weil den die aktuellen Festivalkids – beim Primavera Sound in Barcelona betrug das Durchschnittsalter 29 Jahre – womöglich nicht mehr kennen, beziehungsweise nicht unbedingt kaufen, was fünfzig- und sechzigjährige Rocker im weichgezeichneten Kornfeld tragen, wurden für die einzelnen Looks vorsichtshalber noch Moss‘ Tochter Lila Grace, 22, und Gillespies Sohn Lux, 21, fotografiert. Nach dem Mehrgenerationenhaus und dem Mehrgenerationenauto setzt sich das Mehrgenerationenmodell auch in der Mode immer mehr durch. Beruhigend.
Säbelzahnketten und Spitzenunterwäsche sind gleichermaßen angesagt
Burberry verpflichtete für seine »Festival Season« deshalb Liam Gallagher samt seiner drei Kinder, dazu noch Goldie, Alexa Chung und Cara Delevingne, die alle erwiesenermaßen schon mal im Glastonbury-Matsch unterwegs waren. Chung trägt auf den Bildern Gummistiefel wie anno 2008, nur diesmal halt von Burberry. Was sich überhaupt nicht mit der Trendvorschau der britischen Elle deckt: Demnach sind Gummistiefel dieses Jahr total »out«, »in« sind dafür »Sneakerinas« – eine Mischung aus Sneakers und Ballerinas –, Kopftücher und Kettengürtel.
Wobei das mit dem »in« und »out« eher Nuancen sind. Bei Festival-Mode mag es vordergründig um die große Freiheit unter freiem Himmel gehen, um das mehr oder weniger ziellose Sich-Treibenlassen von Bühne zu Bühne. Ganz konkret nimmt vor allem die Freie Körperkultur zu, also der textile Anteil von Jahr zu Jahr ab. Beim Primavera Sound in Barcelona trugen viele Besucherinnen einfach gleich Bikini oder Spitzenunterwäsche mit durchsichtigem Kleid drüber. Säbelzahnketten waren genauso allgegenwärtig wie rüschige Boho-Hängerchen.

Alte Musikhasen: Kate Moss mit Bobby Gillespie in der aktuellen Zara-Festivalkollektion.
Wer jetzt den kommerziellen Ausverkauf der heiligen Festival-Erde und den Trampelpfad als Runway bejammern möchte – die meisten Besucher zumindest sind sternhagelglücklich in ihrer Staffage, die Body Positivity erreicht hier noch höhere Werte als am Strand der Copacabana. Festivalgelände ähneln heute riesigen Freiluftgehegen, in denen alle möglichen Ausprägungen der menschlichen Spezies grölend und hüpfend koexistieren, weil man nach dem dritten Bier sowieso den Überblick verliert und es irgendwann dunkel ist.
Außerdem war die Kommerzialisierung der Festivals ungefähr so erwartbar wie das heute übliche dritte und vierte Saison-Trikot im Profifußball. Konzerte sind das neue Ausgehen, die Bühnenshows Megaevents, deren Bilder um die Welt gehen. Rückblickend geradezu niedlich, dass Madonna auf ihrer Blond Ambition-Tour im Jahr 1990 noch durchweg Jean Paul Gaultier trug. Beyoncé oder Dua Lipa wechseln mit jeder neuen Station die Marke ihrer Bühnenoutfits, weil die Werbewirkung gigantisch ist. Levi’s kleidete beim Primavera Sound nicht nur Troye Sivan und Charli xcx ein, sondern war dieses Jahr auch einer der Hauptsponsoren mit eigener Bühne und »Tailor Shop«, wo Besucher sich ihre Jeans-Outfits personalisieren lassen konnten. Burberry soll mit Liam Gallagher einen Eine-Million-Pfund-Deal haben, damit er auch bei der anstehenden Oasis-Tour möglichst viel Karo und Trenchcoat trägt.
Echte Menschen!
In echter Umgebung!
Bei Festivals gehe es heute eben nicht mehr nur um das Programm, sagte Parisa Parmar, Kreativstrategin bei der Marketingagentur Attachment, kürzlich bei Vogue Business. »Das sind kulturelle Barometer, die widerspiegeln, wie Menschen sich ausdrücken, miteinander in Kontakt treten und die Welt erleben.« Für Marken bieteten sie etwas, was digitale Plattformen nicht könnten: »Eine emotional aufgeladene, physische Umgebung, die mit massenhaft Fans gefüllt ist.« Echte Menschen! In echter Umgebung! Nicht umsonst gehören viele Festivals heute zum Teil großen Entertainmentkonzernen oder Investementfonds. Der Matsch ist längst eine Goldgrube – die bisweilen trotzdem noch politische Statments zu Tage fördert.
Das Sónar-Festival in Barcelona wurde dieses Jahr massiv von Künstlern und Besuchern boykottiert, weil die amerikanische Private-Equity-Firma KKR, die am Mutterkonzern des Festivals beteiligt ist, auch in israelische Waffenhersteller und umstrittene Projekte im Westjordanland investiert. Fontaines DC ließen beim Primavera Sound riesengroß »Free Palestine« auf die Leinwand projizieren. Ahnoni and the Johnsons spielte zwischen den einzelnen Songs Interviews mit Wissenschaftlern ein, um auf den Klimawandel und das Sterben des Great Barrier Reefs aufmerksam zu machen. Ob sich dieser »Trend« wohl auch beim Glastonbury fortsetzt?
Wird getragen mit: megaguter voll krasser Energie
Wird gefilmt mit: viel Gekreische und irgendeinem Popstar auf Leinwand
Passender Film: »Almoust Famous«